Nicht schön, aber wahr:
Da mich mal eine Blindpese mit dem Auto gerammt hat, lag ich mit jemanden, der etwas jünger war als ich, zusammen im selben Zimmer im Krankenhaus.
Mein Patienten-Kumpel sagte von sich selber stolz, das alle sagen, er sähe aus wie Arjen Robben. Was ungefähr stimmte.
Deshalb nennen wir ihn hier der Einfachheit halber mal Arjen. (Wie der in echt hieß, weiß ich nicht mehr.)
Zwei Männer, zwei Themen
Wenn zwei Männer für 9 Tage ein Krankenzimmer teilen, dann ist es so ähnlich als wenn sich zwei Männer eine Zelle im Knast teilen. Solange keiner völlig daneben ist, funktioniert das Miteinander durch Fokussieren auf zwei gemeinsame Interessen. Das sind in dem Falle Fernsehen und Gesprächsthemen. Findet man nichts, dann dauern 9 Tage wie 9 Jahre. Findet man mehr als zwei gemeinsame Interessen, dann werden es reale 9 Jahre.
Als wir Abends fern sahen, habe ich Arjen gleich die Fernbedienung gegeben. Frei nach dem Motto: Egal, was läuft, es ist auf allen Kanälen eh nur Scheiße drin. Ich war aufs schlimmste gefasst — nicht wegen Arjen’s Vorlieben, sondern wegen dem TV-Programm generell. So hat er sich gefreut, dass ich immer genau „dasselbe gucken wollte“ wie er. Diese Eintracht gibt es eben nur bei Männern.
Keiner will Pirat sein
Tagsüber, als Schwester Dieter uns das Essen brachte und der Doc seine Visite abhielt, unterhielten wir uns anschließend. Was hätten wir sonst tun sollen, außer quatschen? Einen Joint rauchen, zusammen mit dem Chefarzt?
Nein. Arjen nahm an, sich zu unterhalten sei wie das gemeinsame Fernseh gucken. Eben, dass wir immer (s)einer Meinung seien. Waren wir aber nicht.
Während wir über die Zustände im Land berieten, kamen wir urplötzlich auf das Thema Piraten. Wahrscheinlich deshalb, weil Piraten gerade en vogue waren, solange die aussahen wie ein tuntiger Johnny Depp.
Ich sagte dann, um etwas Neues in die Welt zu bringen und den Status Quo zu erschüttern ist es besser ein Pirat zu sein als ein Matrose*.
Das hat er nicht verstanden. Ich erklärte, dass Querdenken und gegen die Regeln arbeiten genau dem Verhalten eines Piraten entspricht. Mit so einer Einstellung kann man langfristig mehr positive Veränderungen bewirken als durch blinden Gehorsam, unauffälliges Verhalten und damit Anpassung an gesellschaftlichen Normen. Kurz, der Pirat hat mehr Spaß*.
Arjen meinte dann, Pirat zu sein sei verbrecherisch und habe nichts gutes an sich, denn der sei doch schlecht für die Gesellschaft. Ich sagte, der „Pirat“ sei sinnbildlich für Kreativität abseits der Konventionen und antiautoritäres Denken gemeint. Und wer sagt, dass die Gesellschaft nicht schlecht sei?
Aber das ging für Arjen zu weit. Seiner Meinung nach sind Regeln und Gesellschaftsnormen dazu da, strikt eingehalten zu werden. Und sowieso, wer Spaß hat, der tue ja nichts sinnvolles.
Da sagte ich nichts mehr, denn in dem Moment kam Schwester Dieter schon mit den Schlafpillen rein.
Der kostenlose Dope hat uns ironischerweise wieder zum reden gebracht. Und dann zum Lesen, die andere Beschäftigung in Krankenhäusern und Spitälern.
Und man liest das, wozu man sonst keine Zeit hat. Ich las die Bikers News. Er las die Bild-Zeitung, die er mir anschließend immer gab. Um Arjen nicht zu kränken, tat ich falscher Bastard dann ein paar Minuten so, als ob ich die Bild tatsächlich „lesen“ würde.
Natürlich bot ich ihm auch meine Zeitschriften zum lesen an. Aber er wollte nicht. Kein Interesse. (Was ich schließlich erwartet habe.)
1% Hoffnung
Aber dann, als er in Richtung Klo humpelte, zeigte er auf meine Zeitschrift und sagte beiläufig: „Das ist Hanebuth! Den habe ich Abends mal in Hannover kennen gelernt! Cooler Typ!“
Ich: „Was was was?!?“
Er. „Ich muss aufs Klo.“
Ich: „Geh mal.“ (Und dachte, der kommt ja wieder raus.)
Als er wieder kam, fragte ich, wie er dazu kam, den (damaligen) Präsi der Hells Angels in Hannover persönlich zu treffen.
Die einfache Erklärung war, dass ein Bekannter (Unternehmer) seines Chefs wiederum mit dem Präsi bekannt war und sie dort auf der von den Rockern kontrollierten Reitwallstraße mal ausgegangen sind. Und da haben sie sich halt kurz getroffen. Und ja, der mächtige Rocker Frank Hanebuth hat auch den kleinen Arjen begrüßt und ihm die Hand gegeben und nicht einfach ignoriert.
Voller Stolz erzählte Arjen von der Begegnung. Er habe mit Rockern und Motorrädern ja eigentlich nichts am Hut. Aber die Begegnung mit Hanebuth hat ihm nachhaltig beeindruckt. Ich lies ihn reden….
Und überlegte, wie ich den stolzen Arjen nun erklären könnte, dass er da in Hannovar den „Piraten-Kapitän“ schlechthin getroffen hat. Jemanden, der so brav und gesellschaftskonform ist wie der alte Backbeard und Don Corleone zusammen.
Ist schon doll: Unser moralinsaurer Spießer bewunderte eine Art Pirat, Wikinger oder Krieger der Neuzeit. Er bewunderte das Gegenteil von ihm selbst.
Bevor ich anfangen konnte, Arjen den Spiegel der eigenen Doppelmoral vorzuhalten, kam Schwester Dieter, freundlich wie immer, herein und gab uns unsere Pillen. Ich hätte lieber was gegen die plötzlich auftauchende Seekrankheit gehabt. Denn Arjen’s Weltbild schwankte schon wie ein Stück Holz im Golf von Mexiko.
Konformisten bewundern Nonkonformisten
Nichtpiraten bewundern Piraten, weil jene symbolisieren wie niemand sonst die eigene Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung. Piraten wählen, in und nach welchem System sie leben wollen.
Der Pirat (oder Rocker oder Macher) entscheidet selber, ob er Pirat (oder Rocker oder Macher) sein will. Denn niemand wird als Spießer geboren. Er wird von der Gesellschaft erst dazu gemacht. Entweder du machst oder du wirst gemacht. Deine Wahl, ‚Arjen‘.
*Frei nach Steve Jobs‘ „It’s more fun to be a pirate than to join the Navy.“